Die längste Zeit meines bisherigen Lebens habe ich an dem Ort verlebt, an welchem diese Bilder entstanden sind.
Diese Zeit beginnt mit meiner Geburt im Jahr 1981 und endet mit dem Auszug 2000.
Oft träume ich von diesem Ort, von diesem Haus.
Seit ich weiß, dass das es abgerissen wird, träume ich immer, dass ich dabei zusehe, aber in dem entscheidenden Moment, in welchem die Abrissbirne einschlägt, schaue ich immer aus Versehen weg.
Doch eigentlich ist das Haus jetzt schon tot.
Eine modrige Kulisse, die ich mit meinen Erinnerungen zu beleben versuche.
Die Gegenwart hier ist nur noch Vergangenheit.
Das Gewesene zieht durch jeden Türschlitz und klebt an der Tapete – darunter liegt das Mauerwerk von 1937.
Die Häuser wurden damals für die Arbeiter der Flugzeugwerke gebaut.
So entstand eine Werksiedlung für Kriegszwecke, deren Straßen bis heute die Namen germanischer Götter tragen.
Balder – Donar – Fulla – Wodan – Ziu.
Für mich bedeuten diese Namen: Fahrradrennen – Kniefall mit Grind – lieber Hosen statt Kleid – Himmel und Hölle – der Eismann – die erste Zigarette unterm Sternenhimmel.
Eine Straße mit dem Namen Urd gab es nie.
Doch die Urd weist mir den Weg.
Sie ist die germanische Schicksalsgöttin der Vergangenheit, des Vergehens.
Sie ist die Älteste von drei Schwestern, welche zusammen die drei Zeitebenen des Seins bilden.
Mit Verdandi, welche die Gegenwart, das Seiende verkörpert und Skuld, die die Zukunft, das noch Unoffenbarte repräsentiert, spinnt sie den Lebensfaden der Zeit.
Sie sind die Nornen, die beständig das Schicksalsrad des Lebens drehen, auf dessen Gewinner- oder Verliererseite sich jeder einmal wiederfindet.
Ihr ewiges Prinzip des "Stirb und Werde" zu missachten, zieht Unglück, Leid und Trauer nach sich.
Sich hingegen mit ihnen gut zustellen, deutet darauf hin, seine ureigenste Bestimmung zu finden und ihr zu folgen, auf das „Sein“ und seelisches Streben in Einklang kommen.
Ich bin an diesen Ort zurückgekehrt, um mich mit der Urd gut zustellen.
Ich möchte nach besagten Lebensfaden greifen.
Ich weiß, dieser wurde schon gesponnen, als ich noch nicht hier war.
Er fließt durch die Hände meiner Urgroßmutter auf dem Bild von 1920.
Und er wird gesponnen werden, wenn auch ich nicht mehr …
wenn auch ich vergangen bin.
Diplomrede, 3. Juli 2008